Anja Baier, 38 Jahre alt, ist im letzten Jahr der Weiterbildung zur Fachärztin für Allgemeinmedizin und hat in diesem Jahr mit der Weiterbildung Homöopathie beim Berliner Verein homöopathischer Ärzte (BVhÄ) begonnen. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Wann haben Sie sich das erste Mal mit Homöopathie beschäftigt?

Seit meiner ersten Schwangerschaft beschäftige ich mich mit Homöopathie – also seit 15 Jahren. Bis dahin gab`s für mich nur Schulmedizin, so, wie ich es im Studium gelernt habe. Ich dachte sogar abwertend über Homöopathie, so, wie es wohl vielen ergeht, die keinerlei Berührung mit ihr haben. Aber als ich schwanger war, begann ich mich mit der Frage zu beschäftigen, wie ich eigentlich mein Kind zur Welt bringen und wie ich die Schwangerschaft medizinisch begleiten möchte. Ich habe begonnen, mich für komplementärmedizinische Verfahren zu interessieren.

Und wie waren die Erfahrungen?

Mein Homöopathie-Schlüsselerlebnis war eine Situation im Wochenbett: Ich hatte einen heftigen Milchstau, so krank hatte ich mich in meinem Leben noch nicht gefühlt. Freunde, die sich mit Homöopathie gut auskannten, gaben mir ein homöopathisches Mittel und eine halbe Stunde später waren die Symptome so gut wie weg. Erst nach ein paar Tagen habe ich nachgefragt, was für ein Mittel es war: Belladonna. Ich war zutiefst beeindruckt und wollte, dass meine Kinder auch so behandelt werden. Ich fand eine Homöopathin über eine Empfehlung, die mich und meine Kinder  behandelte. Und da habe ich meine zweite Erfahrung gemacht, die ich inzwischen von so vielen Eltern höre: Der Kinderarzt verschrieb meinem Sohn immer wieder Cortison- und Antibiotika-Salben, die nur zu einer kurzfristigen Verbesserung führten. Die Symptome kamen ständig wieder. Ich ließ bei meinen beiden Kindern eine konstitutionelle homöopathische Behandlung durchführen und sah, wie es ihnen besser ging – das hat auch mein Leben im Examen einfacher gemacht.

So entstand der Wunsch, auch Homöopathie in der Praxis anzuwenden?

Genau, diese Erlebnisse waren die Auslöser für meine Entscheidung, die Homöopathie zu erlernen. Aber erst einmal stand die Arbeit im Krankenhaus und dann in verschiedenen Praxen an, die Facharztausbildung und meine Familie, da war wenig Raum, um Homöopathie strukturiert zu erlernen. In dieser Zeit habe ich Homöopathie-Fortbildungen besucht und auch in Praxen gearbeitet, in denen Homöopathie integriert wurde.

…und nun doch die Weiterbildung

Ja, jetzt ist die Zeit gekommen, ich habe im Frühjahr mit der Weiterbildung Homöopathie im Berliner Verein homöopathischer Ärzte begonnen, die ich mit einer Prüfung bei der Ärztekammer abschließen werde. Mir ist es wichtig, dass ich die offizielle Zusatzbezeichnung Homöopathie führen und von erfahrenen Homöopath*innen das nötige Know-how erlernen kann. Wir sind neun Teilnehmerinnen aus verschiedenen Fachrichtungen, die meisten etwa Ende 30 und werden von drei erfahrenen Ärzt*innen unterrichtet.

Was ist für Sie ein wichtiger Inhalt des Kurses?

Das Zuhören lernen, dem Patienten richtig zuzuhören. Den Patienten mit seinen Worten schildern zu lassen, was ihn bewegt und das nicht direkt zu bewerten, es nicht gleich in irgendwelche ärztliche Kategorien zu packen, in Diagnose und Differentialdiagnose, die Leitlinien schon im Kopf und die sich daraus ergebenden Fragen. Es ist eine große Herausforderung, in der homöopathischen Anamnese die gewohnten Denkmuster zu verlassen. Aber daran müssen wir uns hier gewöhnen, die Homöopathie ist eine Herausforderung und ich kann gut verstehen, wenn man sich auch nach vielen Jahren noch so fühlt, als stehe man am Anfang.

Wo hat die Homöopathie in Ihrer bisherigen Praxis gefehlt?

Allgemeinmedizin und Homöopathie ergänzen sich sehr gut. Es gibt viele gemeinsame Anliegen, sei es, dass Hausärzte langfristige Arzt-Patienten-Beziehungen haben, sie kennen das Umfeld der Patienten – du schaust also nicht nur auf Laborwerte, sondern auf den Menschen. Die DEGAM sagt: Die Allgemeinmedizin ist spezialisiert auf den ganzen Menschen. Homöopathie ist dafür eine wunderschöne Ergänzung, denn es kommt oft genug vor, dass Patienten nicht richtig gesund werden und du mit deinen hausärztlichen Möglichkeiten nicht weiter kommst. Die Homöopathie kann die Patienten oft einen Schritt weiter bringen, die homöopathische Arznei macht das möglich.

Also wird ein entscheidender Impuls gesetzt?

Ja, die homöopathische Anamnese hilft mir, einen anderen Zugang zu dem Patienten zu finden. Wir lernen auch noch stärker auf die Auslöser eines Problems zu sehen, wann und wodurch wird jemand krank, wo ist der rote Faden, der sich durch das Leben des Menschen zieht, was ist die Individualität, was ist das Besondere an diesem Menschen, warum bekommt er diese Krankheit, ein anderer eine andere. Nach dieser Anamnese und der anschließenden Repertorisation entscheidest du dich für eine Arznei, und wenn die gut gewählt ist, passieren oft beeindruckende Dinge. Das ist nochmal ein anderer Impuls. In der Allgemeinmedizin frage ich auch das soziale Umfeld ab, aber du würdest zum Beispiel nicht so tiefgründig nach der Causa fragen.

Dann ist die Homöopathie eine sinnvolle Ergänzung…

Auf jeden Fall, mit der Homöopathie – und damit meine ich Anamnese und Arznei – haben wir ein weiteres wichtiges Tool, das wir für die Therapie einsetzen können. Seitdem ich das lerne, verstehe ich meine Patienten auf eine andere Art und Weise – es ist sehr bereichernd, beide Methoden einsetzen zu können.

Und dennoch ist es häufig schwierig in der Öffentlichkeit zur Homöopathie zu stehen?

Das ist ganz unterschiedlich, es gibt Kreise, da würde ich nicht unbedingt von der Homöopathie erzählen. Ja, ich finde es schade, dass die Situation schon so ist, dass ich nicht in jeder Situation offen darüber reden kann. Diese fehlende Toleranz  ist für mich auch ein gesellschaftliches Thema, es wird generell sehr stark polarisiert. Ich wünsche mir, dass wir in unserer Gesellschaft wieder toleranter und offener werden, dass Meinungen akzeptiert und nicht so schnell Andersdenkende angefeindet werden.

Was können wir dagegen tun?

Wach werden und Verantwortung übernehmen, jetzt ist die Zeit reif, für die Homöopathie und für die offene, plurale Gesellschaft einzustehen. Wer, wenn nicht wir? Ich wünsche mir, dass wir homöopathischen Ärzt*innen uns mehr vernetzen, eine Gemeinschaft werden und uns gegenseitig stärken und unterstützen. Wir müssen mehr mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fachgesellschaften ins Gespräch kommen und zum Beispiel auch unsere Patienten motivieren,  aktiv zu werden.


Das Gespräch führte Christoph Trapp